11.04.2015 20:57

SZ-Artikel über zwei Bücher – Fazit: Deutsche Ständegesellschaft

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Es gibt sicherlich etliche Pressemitteilungen, Statistiken, Grafiken und Analysen, die ein gemeinnütziger Verein mit dem Namen "ghettokids – Soziale Projekte e.V." empfehlen oder zitieren könnte. Da jedoch all unsere Engagierten "nebenberuflich" – meist in Vollzeit – ehrenamtlich arbeiten, bleibt für solche Statements kaum Zeit.

Wir haben wahrlich genug mit der Umsetzung von Angeboten für unsere sozial benachteiligten Münchner Kinder und Jugendlichen zu tun. Tagtäglich. Und wir wissen, warum wir uns ehrenamtlich engagieren.

Aber dann liest unsere 1. Vorsitzende einen Feuilleton-Artikel, dessen Inhalt ihr  den Atem stocken lässt. Dort werden die beiden gesellschaftlichen Pole Deutschlands, die beiden Spitzen "Arm und Reich" der berühmt-berüchtigten Schere anhand von zwei Buchempfehlungen genauer beleuchtet. Inhaltlich kaum Neues, aber das Bekannte erschreckend auf den Punkt gebracht. Beim Lesen erfährt sie Bestätigung und Gewissheit. Es entstehen Gefühle wie Scham, Traurigkeit, Entsetzen und auch Wut. Warum? Weil es bei uns in Deutschland so ist wie es ist.

An unserer Gesellschaft Interessierte sollten den Artikel der Süddeutschen Zeitung / Nr. 77 vom 2./3. April 2015 – Feuilleton, Seite 11 von Alex Rühle im Ganzen selbst lesen. Und die inneren Reaktionen werden sicherlich extrem unterschiedlich sein. Abhängig davon, woher man gesellschaftlich kommt, in welche Familie man hineingeboren wurde, auf welchem Scheren-Flügel man lebt.

Die Überschrift des SZ-Artikels klingt eher harmlos: "Willkommen in der Ständegesellschaft 2.0". Leicht zu überlesen.

Marco Maurers Buch "Du bleibst, was du bist" und Julia Friedrichs‘ "Wir Erben" diagnostizieren ein hermetisches Klassensystem – ein Untertitel, der aufhorchen lässt.

Ist wortwörtliches Zitieren von Sätzen aus dem Artikel – alles andere würde nur verfälschen – noch erlaubt? Wir wagen es.

"Der eine geht das Problem von unten an, aus der Sicht und Schicht der Arbeiter, die andere von oben, aus der Perspektive der Reichen." (…)

"Und beide, das ist das Verstörende an ihren soeben erschienenen Büchern, beide kommen zu demselben Schluss: ob nun in der Schule oder im Beruf, es ist egal, wie sehr man sich anstrengt. Am Ende zählt die Herkunft. Willkommen in der BRD 2015, willkommen in der Ständegesellschaft 2.0."

"Eine der zentralen Ungerechtigkeiten in diesem Land lässt sich in drei Zahlen zusammenfassen: 100 – 77 – 23. Von 100 Akademikerkindern beginnen 77 ein Hochschulstudium, in Nicht-Akademiker-Haushalten schaffen es nur 23 Kinder an die Universität. Die Zahlen stammen aus der aktuellen Sozialstudie des Deutschen Studentenwerks." (…)

"In Bayern besuchen Akademikerkinder sechsmal häufiger das Gymnasium als Kinder aus bildungsfernen Milieus." (…)

"Kurzum: "Fakt ist, dass unser Bildungssystem Abgrenzung stabilisiert." Dieser Satz stammt vom Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Marco Maurer zitiert ihn genauso wie all die oben erwähnten Studien in seinem Buch … ."

"Und er hat ein paar Tage lang eine Schule in Finnland besucht, ein Kapitel, das einem die Tränen in die Augen treiben kann: zwei Lehrer für zehn Schüler, Migrantenkinder sind nicht in Resteschulen ausgelagert, sondern sitzen mit im Unterricht. Alle Materialien sind umsonst." (…)

"Neu ist der Blick der Finnen auf Deutschland. Von Helsinki aus wirkt das deutsche System wie irgendeine mittelalterliche Erfindung, ungerecht, statisch, feudalistisch." (…)

Immer wieder gibt es in diesem Buch den verwunderten Blick von außen: Franzosen, die darüber staunen, dass bei uns nicht alle Krippen umsonst sind, schließlich öffnet sich die Bildungsschere schon in einem Alter, in dem die Kinder noch nicht einmal 'Schere' sagen können."

"Oder die Hirnforscherin von der ETH Zürich, die sagt, eine Begabungsprognose in der vierten Klasse sei 'hochgradig unseriös'." (…)

"Doch, Maurer weiß das sehr genau. Er hat eine furiose Abrechnung mit unserer bildungspolitischen Klassengesellschaft geschrieben, die traurige Chronik eines Landes, das Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern in den Siebziger- und Achtzigerjahren echte Aufstiegschancen bot, aber dieses große bildungspolitische Kapitel wieder verspielt hat."

"Julia Friedrichs stellte mit Anfang 30 fest, wie sich ihr Freundeskreis auf einmal diskret entmischte." (…)

"Die einen hatten geerbt, die anderen nicht. Und alle berufliche Anstrengung wirkte plötzlich wie biografische Fassade, Zeitvertreib, Hobby."

"Darüber reden wollte keiner so richtig, denn Erben ist ein Tabuthema." (…)

"Die größte Erbschaftswelle der Geschichte steht bevor, je nach Schätzung werden zwischen zwei und vier Billionen bis zum Jahr 2020 weitergegeben." (…)

"Die Wirtschaftswundergeneration hinterlässt einen verschuldeten Staat. Und sie hinterlässt gleichzeitig das größte Privatvermögen aller Zeiten. Die Schulden erbt die Allgemeinheit. Den Reichtum erbt das Kind." (…)

"Deutschlands Vermögende tragen viel weniger zum Steueraufkommen bei als Millionäre in Frankreich oder Großbritannien." (…)

"Was aber heißt es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn zusehends mehr Kinder das Gefühl bekommen, eh keine Chance zu haben?" (…)

"Und wenn sich die Politik nicht mal traut, über diese eklatante Schieflage offen zu diskutieren? Der SPD-Politiker Lothar Binding sagte Julia Friedrichs bedauernd, das Thema sei einfach nicht vermittelbar, die Debatte würde sofort in Richtung Neid und Abzocke driften."

"Stimmt leider: Nachdem Die Zeit ein Kapitel aus "Wir Erben" abgedruckt hat, gab es mehrere Leserbriefe, die belegen, dass viele Erben den Sozialvertrag längst aufgekündigt haben."

"Kein gutes Zeichen, wenn die bloße Frage nach Gerechtigkeit sofort als Neid denunziert wird."

Wir danken Alex Rühle für seinen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der sichtbare Fakten noch transparenter gemacht hat!