06.12.2022 22:42

Eine Erfolgsgeschichte: eine Großfamilie hat es geschafft

Schon länger braucht die kurdisch-syrische Großfamilie die unterstützende Hilfe von "ghettokids – Soziale Projekte e.V." und unserer 1. Vorsitzenden nicht mehr. Die Eltern mit ihren fünf Kindern, die inzwischen - außer dem Viertklässler - bereits junge Erwachsene sind, haben durch Eigeninitiative, Anstrengungsbereitschaft, Fleiß und Durchhaltewillen stets versucht, allen Anforderungen gerecht zu werden, um sich als anerkannte Flüchtlinge auch aus eigener Kraft in München eine Zukunftsperspektive aufzubauen und von der staatlichen finanziellen Unterstützung unabhängig zu werden – die Voraussetzungen dafür waren wahrlich nicht ideal.

Auf Grund des schrecklichen Syrienkrieges wurde 2013 die Situation für alle dort lebenden Menschen immer gefährlicher – ganz besonders für Kurden. Die Familie musste wegen der ständigen Bombardierung der syrischen Stadt Aleppo und den zunehmenden bedrohlichen Schikanen durch Polizeikräfte und Militär bereits im März 2013 alles hinter sich lassen: den voll ausgestatteten Supermarkt, die sehr große Eigentumswohnung, Möbel, Elektrogeräte, Fernseher, Bekleidung, Spielzeug, zwei neue Fahrräder, Fotos … einfach alles. Das Auto hatte der Vater vorausschauend bereits 2012 verkauft. Trotzdem: von einem Moment zum anderen verlor die ehemals als reich geltende Großfamilie ihr sicheres Zuhause, ihr gewohntes Leben und alles, was sie bisher geschaffen hatten. Nicht einmal Familienfotos sind mehr vorhanden, die an bessere, vor allem friedliche Zeiten in ihrer Heimat Syrien erinnern. Das Handy ging auf der Flucht in die Türkei verloren.

Anfangs floh die Familie gemeinsam in das von Kurden bewohnte Dorf des Mannes, wo sie aber weder willkommen waren noch ihre Kinder ernähren konnten, weil es keine Arbeit mehr gab. Die Familie floh nach drei quälenden Monaten in die Türkei nach Ankara, dort wurde sie aber von der türkischen Polizei ohne gültige Papiere erwischt und nach Aleppo zurückgeführt. Der zweite Versuch war dann erfolgreich. Eine sofortige gemeinsame Flucht weiter nach Europa in einem völlig überfüllten, windigen Schlauchboot oder mit einem kaum funktionstüchtigen Schiff kam für die Eltern nicht infrage. Sie wollten ihre Kinder auf keinen Fall zusätzlichen unberechenbaren Gefahren aussetzen.

Anfangs war die Familie in der Türkei noch zusammen. Der Vater fand schnell eine Arbeit und nähte als ehemals gelernter Schneider für niedrigen Lohn Herrenhosen. Für dieselbe Firma waren auch die beiden 10- und 12-jährigen Jungs und die 14-jährige Schwester für einen Hungerlohn für 500 Türkische Lira im Monat (umgerechnet ca. € 25.-) beschäftigt: Einkaufstüten in Heimarbeit kleben und falten. Der Zwölfjährige musste zusätzlich noch Damenunterhosen nähen, was ihm als Pubertierender äußerst peinlich war. Die Tochter nahm noch einen zweiten Job an: Strümpfe im Akkord abpacken. Der älteste Sohn, der nach bestandenem syrischem Abitur in Aleppo bereits ein BWL-Studium begonnen hatte, arbeitete den ganzen Tag über an einer heißen Strumpf-Dehnungsmaschine und verbrannte sich dabei regelmäßig die Hände.

In der Türkei hatte die kurdisch-syrische Familie keine Zukunft, schon gar nicht die Kinder. Völlig verzweifelt bat die Mutter ihren Mann und ältesten Sohn, sich ohne sie und die vier jüngeren Kinder auf den Weg nach Europa zu machen und sie irgendwann dann nachzuholen.

Vater und Sohn konnten beide unter Lebensgefahr auf getrennten Wegen aus der Türkei nach Europa flüchten – der Vater im November 2014 nach Italien und der Sohn im September 2015 nach Griechenland.

Ab diesem Zeitpunkt war die Mutter mit ihren drei Söhnen (2,10,12) und ihrer Tochter (14) in der Türkei völlig auf sich selbst gestellt. Sie lebte weiterhin mit ihren vier Kindern in der Hauptstadt. Ihnen stand nur eine abgewohnte Zweizimmerwohnung im Tiefparterre zur Verfügung, die bei Regen ständig überflutet wurde. Nicht selten schlief die Familie auf feuchten oder sogar nassen Matratzen. In der Feuchtigkeit fühlten sich Ratten anscheinend besonders wohl. Die Mutter konnte vor Ekel und Angst nachts nicht mehr schlafen, da sich auch das Fenster zur Straße hin nicht schließen ließ.

Die älteren Geschwister wollten gerne in der Türkei zur Schule gehen, auch um soziale Kontakte zu Gleichaltrigen aufbauen zu können und um die türkische Sprache möglichst schnell zu lernen. Deren Schulbesuch hätte aber pro Flüchtlingskind $ 100.- im Monat gekostet. Das Geld hatte die Mutter nicht. Zudem konnte sie selbst keine Arbeit annehmen, weil sie sich um ihren ständig kränkelnden zweijährigen Sohn kümmern musste – für ihn gab es keine Möglichkeit der Betreuung durch eine Krippe oder ähnliches. Sozialhilfe oder andere finanzielle Unterstützung, z.B. für Arzt- oder Krankenhausbehandlungen, gab es für die Mutter mit ihren Kindern als Flüchtlinge in der Türkei nicht. Um das Überleben der Restfamilie zu gewährleisten, mussten die drei älteren Kinder weiterhin 12 Stunden am Tag bei geringster Bezahlung arbeiten. Für die drei war das sehr anstrengend und ermüdend. Das führte zu ständiger Überbelastung und beeinflusste negativ ihre körperliche und emotionale Entwicklung. Der einzige Vorteil der Arbeitswelt war der Kontakt mit Einheimischen. So erlernten die Geschwister auch ohne Schulbesuch die türkische Umgangssprache. Ihre Jugend wurde ihnen aber gestohlen.

Nach den Flucht-Odysseen fanden sich der Vater und sein ältester Sohn in Deutschland wieder. Als sie dachten, dass sie endlich zusammen sein könnten, da belehrte sie die Bürokratie eines Besseren: sie waren im Verteilverfahren unterschiedlichen Bundesländern zugewiesen – der Sohn im Osten unseres Landes, wo über einen langen Zeitraum die Willkommenskultur für ihn als kurdisch-syrischer Flüchtling aus teils traumatischen Erlebnissen bestand, der Vater landete in Bayern im Speckgürtel Münchens – und eine Zusammenführung war erst nach einem positiven Ergebnis des Asylverfahrens möglich.

Der Vater lebte somit weiterhin ohne ein Familienmitglied in einer großen Flüchtlingsunterkunft mit vielen, ihm völlig unbekannten Menschen aus unterschiedlichsten Ländern. Sie alle hatten nur eines gemeinsam: sie waren Flüchtlinge. Die wunderschöne nähere Umgebung mit Blick auf einen riesigen See und die Berge rundherum konnten den Vater nicht glücklich machen. Die zurückgelassene Familie fehlte ihm nicht nur, sondern er fürchtete tagtäglich auch um deren Leben. Jeder Tag war geprägt von dem Gedanken an das zukünftige Wiedersehen – sicher und gesund. Die anfängliche Aussichtslosigkeit dieses nicht schnell umsetzbaren Wunsches erforderte immense Geduld von ihm – besonders das zeitaufwendige Asylverfahren. Verzweiflung und Depressionen wurden für ihn zur tränenreichen Qual. Sein Darmdurchbruch war sicherlich das Resultat dieses für ihn unerträglichen Zustandes, der eine komplizierte Operation nach sich zog. Nach der langwierigen Genesung brachten Sprach- und Integrationskurse ein bisschen Abwechslung in seinen tristen Alltag, auch wenn es ihm aus Altersgründen schwerfiel, wieder mit dem Lernen anzufangen.

Vater und Sohn wurden vom für sie jeweils zuständigen ehrenamtlichen Helferkreis geholfen, das Asylverfahren mit der abschließenden Anerkennung erfolgreich zu durchlaufen – dem einen im Süden und dem anderen im Osten Deutschlands. Nach vielen Hindernissen wurde dann auch der Antrag auf Familienzusammenführung positiv beschieden. Seiner Frau und seinen vier jüngeren Kindern konnten in der Türkei bei der deutschen Botschaft endlich Visa für Deutschland ausgestellt werden. Danach ging es auf die Suche nach einer dementsprechend großen, bezahlbaren Wohnung für die siebenköpfige Familie. Sie wurde in München gefunden. Eine 4-Zimmer-Dachgeschosswohnung mit Balkon – glücklicherweise hatte der Wohnungseigentümer mit der Vermietung an eine Flüchtlingsgroßfamilie keine Probleme.

Im August 2016 hatte es mit der endgültigen Familienzusammenführung in Deutschland geklappt: eine Wohnung war vorhanden, der älteste Sohn durfte nach langem Hin und Her – mit der Hilfe von Frau Korbmacher – von Ostdeutschland nach München zu seiner Familie ziehen, die Mutter und die restlichen vier Kinder kamen mit dem Flugzeug aus Istanbul nach München – der Vater hatte sich die sehr hohen Passkosten über € 5000.- und überteuerten Flugkosten bei Freunden und Bekannten zusammengeliehen.

Unsere 1. Vorsitzende hat das herzzerreißende Video vom Wiedersehen am Flughafen München gesehen, als sich im August 2016 die ganze Familie nach langer Zeit das erste Mal wiedersah. Der Vater brach beim Anblick seiner Kinder und Frau zusammen, er saß lange weinend am Boden. Alle weinten, umarmten sich, lachten, weinten wieder, fielen sich in die Arme – sie konnten ihr Glück gar nicht fassen. Die ganze Familie war nach vielen Jahren des Schreckens endlich wieder vereint.

Im Adventsmonat Dezember 2017 nahm unsere 1. Vorsitzende, Frau Susanne Korbmacher, einen Artikel mit riesigem Foto der kurdisch-syrischen Familie in der Süddeutschen Zeitung wahr. Eines fiel ihr besonders auf: nur die Mutter lächelte nicht. In ihrem Gesicht lag pure Verzweiflung. Frau Korbmacher meldete sich bei der SZ, um anzufragen, ob die Großfamilie zusätzliche Unterstützung bräuchte. Der ehemalige Helferkreis stellte dann die Kontaktmöglichkeit zu der Familie her: es kam zu einem ersten Telefonat mit dem ältesten Sohn, der inzwischen schon gut Deutsch sprach. Ein Termin für ein persönliches Kennenlernen mit der ganzen Familie wurde mit ihm für Anfang Januar 2018 in deren Wohnung ausgemacht.

An dem besagten Abendtermin waren beide Seiten sehr aufgeregt. Einerseits wollte Frau Korbmacher sich der Familie auf keinen Fall aufdrängen und war sehr gespannt, wie die Familienmitglieder auf eine fremde Deutsche reagieren würden. Andererseits hatte sich die Familie bereit erklärt, eine ihr völlig fremde Person in ihre Wohnung zu lassen. Erst vier Jahre später erfuhr die 1. Vorsitzende, dass die Mutter damals dagegen war, sich aber gegen ihren Mann und vor allem die Kinder nicht durchsetzen konnte.

Frau Korbmacher brachte als Gastgeschenk Kerzenleuchter und den SZ-Artikel mit, den die Familie bis dahin weder gesehen hatte noch selbst besaß. Dadurch war das Eis schnell gebrochen.

Es wurde gefragt, erzählt, gelacht – immer mit Übersetzung vom Deutschen ins Kurdische oder umgekehrt. Es stellte sich heraus, dass die Tochter und die beiden Jugendlichen nach einem Jahr Schulbesuch auch schon recht gekonnt auf Deutsch kommunizieren konnten. Nur der Fünfjährige sprach keinen Ton und zog sich schnell mit einem Handy ins Wohnzimmer zurück. Frau Korbmacher erfuhr, dass der Junge seit einem Jahr kaum Kontakt zu gleichaltrigen Kindern hatte, weil bisher kein Kindergartenplatz gefunden werden konnte. Nur im Fußballverein bahnte er kurzfristige Kontakte zu anderen an. Die Mutter sprach kein Deutsch und war ständig auf Übersetzungen angewiesen. Zwischendurch weinte sie immer wieder, weil sie bisher keine Zusage für einen Sprachkurs erhalten hatte, was sie merklich sehr wütend machte. Die Wohnung sei für sie fast wie ein Gefängnis, merkte sie an. Die beiden Jugendlichen und ihre Schwester schleppten ihre Schulbücher heran und stellten viele Fragen zu unterschiedlichsten Fächern, die Frau Korbmacher als Studienrätin problemlos beantworten konnte. Das brachte ihr sofortigen Respekt ein. Nach dem ausgiebigen, gemütlichen Essen hielt der Vater plötzlich einen Stoß Papiere in der Hand und übereichte Frau Korbmacher die Formulare. Verpflichtender Abgabetermin der 10 auszufüllenden Seiten sei am nächsten Tag bei der Arbeitsagentur. Das setzte nicht nur die Eltern sehr unter Stress, sondern auch die Besucherin. Nach getaner Arbeit verabschiedete sich Frau Korbmacher erst sehr spät am Abend und versprach, sich sehr bald wieder zu melden.

Seit diesem ersten Termin fuhr Frau Korbmacher bis zu dreimal die Woche zur kurdisch-syrischen Familie und ersetzte über fast drei Jahre lang einen kompletten Helferkreis: ständiges Ausfüllen von Dokumenten, Telefonate mit Ämtern, Besorgung von Laptops auf Spendenbasis, schulische Hilfen, Besorgung von Fördermaterialien, Besorgung von pädagogischem Spielzeug, Anmeldungen und Übernahme der Kosten bei Fußballvereinen, notwendige Einkäufe, Suchen und Finden eines Kindergartenplatzes, Anmeldung in der Grundschule, Ausstattung der Wohnung mit Lampen (nach einem Jahr hingen immer noch nackte Glühbirnen von der hohen Decke), Regalen und Möbeln, Herrichten der Wohnung mit Gemälden und anderen Dekorationsgegenständen aus dem Sozialkaufhaus u.v.m – das Wichtigste waren aber wohl die langen Gespräche, bei denen auch viel gelacht wurde. Sehr schnell wurde Frau Korbmacher von der Familie als ein Familienmitglied angesehen, der man großes Vertrauen entgegenbrachte.

Inzwischen hat sich der jüngste Junge aus seiner Sprachlosigkeit und von seinem Schulversagen befreit. Als Viertklässler mit guten Noten steht ihm perspektivisch entweder die Realschule oder sogar das Gymnasium offen. Die beiden mittleren Brüder haben beide M10-Klassen besucht und absolvieren inzwischen erfolgreich ihre Ausbildungen – der eine als Mechatroniker im 3. Jahr, der andere als Kinderpfleger im 1. Jahr, mit der Option einer anschließenden Erzieherausbildung und dem Traum, irgendwann einmal einen eigenen Kindergarten zu eröffnen.

Die Schwester hat die dreijährige Kinderpflegeschule außerhalb Münchens erfolgreich abgeschlossen und arbeitet seit einem Jahr in einem Kindergarten der Stadt München. Ihre deutschen Sprachkenntnisse entsprechen inzwischen dem C2-Niveau. Dieses Jahr hat sie ihren Traummann aus ihrem Kulturkreis geheiratet, der für sie nach München zog und eine Arbeit fand. Sie ist mit ihrem Leben zufrieden und glücklich.

Der älteste Bruder hat seine Ausbildung auch bereits abgeschlossen und wurde von einer bekannten internationalen Institution übernommen.

Die Mutter versteht und spricht inzwischen gut Deutsch. Sie hat als ehemalige syrische Hilfslehrerin in München Fortbildungsqualifikationen im Erziehungsbereich absolviert. Inzwischen wechselte sie von der Kinderbetreuung, bei der sie sich zeitlich ausgenutzt fühlte, in die Berufswelt ihres ältesten Sohnes und fühlt sich dort sehr wohl. Den Tod eines ihrer Brüder durch eine Bombe 2019 hat sie inzwischen verkraftet.

Der Vater ist seit zwei Jahren Schulbusfahrer. Die verantwortungsvolle Arbeit mit Kindern macht ihn stolz. Traurig macht ihn immer noch, dass er nicht zu der Beerdigung seines Vaters fahren konnte, der 2020 verstarb.

Diese Menschen sind in ihrer neuen Heimat angekommen. Sie fühlen sich respektiert und glücklich hier, sind nicht mehr auf finanzielle Staatshilfen, auf das sogenannte Hartz-IV, angewiesen. Die Wohnung ist gemütlich eingerichtet, die Mutter hat sich mit ihrer neuen Einbauküche einen Traum erfüllt, die Eltern konnten ihrer Tochter eine wunderschöne Hochzeit ausrichten, die Männer haben sich mit ihren Autos auch ihren Traum erfüllt, und der zukünftige Mechatroniker hat seinen Führerschein selbst finanziert und bestanden. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Für die Aufnahme und Unterstützung als Kriegsflüchtlinge ist die siebenköpfige kurdisch-syrische Familie ihrer neuen Heimat Deutschland unendlich dankbar – "auf ewig".