"Ghettokids - Immer da sein, wo's weh tut"

von Susanne Korbmacher, Piper Verlag 2004 / 2006 (Taschenbuch).

Autorin

Susanne Korbmacher, 50, Mutter eines 19jährigen Sohnes, unterrichtet als Sonderschullehrerin am Förderzentrum München-Nord. Mit ihrem "Lichttaler-Projekt" unterstützt sie Kinder in Problemvierteln dabei, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. 1998 bekam sie für ihre Arbeit den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. 2000 gründete sie den Verein "Ghettokids" und lieferte den Stoff zu einem viel beachteten Fernsehfilm. "Immer da sein, wo's weh tut" lautet der Untertitel ihres Buches. Er könnte das Lebensmotto von Susanne Korbmacher sein, die, wie sie in einem Gespräch mit dem DeutschlandRadio sagte, an diese Kinder und Jugendlichen glaubt, die sie nicht nur als Lehrerin begleitet, sondern auch als Schauspielerin mit ihnen arbeitet. In den Theater-, Musik- und Tanzkursen, in denen sie selber mitspielt und tanzt, versucht sie, Aggressionen in schöpferische Bahnen umzulenken. Aber - das betont sie - sie setzt den Jugendlichen auch ganz klare Grenzen und warnt: die Kids sollten besser nicht versuchen, sich mit ihr anzulegen.

Vorbemerkung

Viele Großstädte haben diese Viertel abseits des schicken gestylten Lebens in den Innenstädten; Trabantensiedlungen, von denen die Reichen oder die normalen Mittelstandsbürger ungern sprechen, geschweige denn, sich hinein wagen. Denn sie könnten dort verstärkt auf den sozial schwachen Teil der Bevölkerung treffen, auf die Straßenkinder, von denen viele aus ausländischen Familien kommen. Es gibt die "Ghettokids" nicht nur in der New Yorker Bronx, in Rio oder in den Pariser oder Marseiller faubourgs, sondern auch in den deutschen Vorstädten, in Berlin-Marzahn, Hamburg Steilshoop, Frankfurter Berg, Köln-Chorweiler und an anderen Orten. Dort schließen sich die Jugendlichen zu Banden zusammen, prügeln sich, treten sich halbtot, lassen so ihren Frust los, denn sie wollen nicht mehr nach Hause, wo sie selber geschlagen und missbraucht wurden.

Hasenbergl - ein niedlicher Name für einen Münchner Stadtteil, in dem man eher die sauberen Einfamilienhäuser inmitten der gepflegten Gärten vermutet. In Wirklichkeit ist es ein sozial explosives Viertel im Norden einer Stadt, die angeblich keine Armen kennt, kurz: das Hasenbergl ist die Münchner Bronx. Im Nazi-Reich gab es dort ein Barackenlager, später ein Camp für "Displaced Persons", danach ein Regierungslager für heimatlose Ausländer. In der frühen Bundesrepublik wurde es zum Wohnlager Frauenholz, wo die Stadt seit den fünfziger Jahren den sozial schwachen Teil ihrer Bevölkerung unterbrachte: Arbeitslose, allein stehende Frauen, Menschen, die im Wirtschaftswunderland nicht mehr mithalten konnten und zu Kriminellen wurden. In den sechziger Jahren wurden neue große Häuser gebaut, das Lager geriet endgültig auch im übertragenen Sinne an den Rand der Stadt. Hasenbergl-Viertel? Das gehört eigentlich nicht mehr dazu (zu München), sagt der Normalbürger gelegentlich.

Inhalt

Neun Biografien stellt die Autorin in dem Buch vor. Alle Geschichten hat sie zusammen mit Kindern und Jugendlichen aus dem Hasenbergl aufgeschrieben. Fotos der Personen (deren Namen natürlich geändert wurde) und von Szenen aus der Trabantenstadt zeigen das reale Lebensumfeld, das geprägt ist vom Zusammentreffen vieler Kulturen. Hier leben Einheimische und Migranten aus vielen Teilen der Welt, vor allem Griechen, Türken, Sinti, Kosovo-Albaner und Aussiedlerfamilien aus den Ländern des früheren Ostblocks.

Da ist zum Beispiel Andrej, der mit sechs Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Deutschland kam. Er konnte lange kein Wort Deutsch, in der Schule verstand er nichts, fühlte sich wie auf einem fremden Stern gelandet. Sein Vater erzog ihn mit brutalsten Mitteln, mit 14 saß er zum ersten Mal in Untersuchungshaft. Es folgten weitere Aufenthalte im Jugendgefängnis nach wiederholten Diebstählen, Körperverletzungen, bewaffneten Raubüberfällen. "Ich weiß nicht, ob sich jemand vorstehen kann, wie das ist. Man hat kein Geld, friert, stiehlt sich durch. Jeden verdammten Tag" sagt er.

Andrej lebte lange auf der Straße wie auch Ramadan, der Kosovo-Albaner, der schwer traumatisiert (54 seiner Verwandten wurden im jugoslawischen Bürgerkrieg umgebracht) nach Deutschland kam, hier zum Kriminellen wurde, keinen Sinn mehr im Leben sah, einen Selbstmordversuch hinter sich hatte, bevor er sich in der Gruppe von Susanne Korbmacher halbwegs wieder fangen konnte, mit 16 Jahren Vater eines Sohnes wurde. Nach wie vor weiß er nicht, was ihm die Zukunft bringen wird.

Der Bürgerkrieg prägte auch die Biografien der Kosovo-Albaner Faton und Arjeton. Faton knackte Autos, machte sich als brutaler Schläger einen Namen und mit 13 war seine kriminelle Energie kaum noch zu zügeln. Eindrucksvoll schildert die Autorin ihre Begegnung mit dem abweisenden misstrauischen Jungen inmitten einer Gruppe der Hasenbergl-Kids. Es ist immer dasselbe: Zunächst die übliche Ablehnung, das Misstrauen gegenüber der vermeintlichen Autorität der Lehrerin, das Lustigmachen über das Fremde, das Theaterspielen, das Tanzen und Rappen mit anderen in einer Gruppe und dann die langsame Annäherung ("Ok, ich mach mal bei diesen Blöden da mit!").

Auch die anderen Biografien, die in kürzeren und längeren Abschnitten erzählt werden, verbindet eines: diese Jugendlichen sind auf der Schattenseite aufgewachsen. Da ist zum Beispiel Monikas Welt, die aus Gewalt und Demütigung besteht; da ist Alexis, der Grieche, der nach der Scheidung der Eltern in zwei Ländern und Welten lebt, nirgends zu Haus ist und sich allen Anforderungen des Lebens verweigert; auch Lenci, die kroatische Sinti, fühlt sich zwischen den Kulturen hin- und her gerissen.

Sie und andere, von denen in dem Buch berichtet wird und die stellvertretend stehen für hunderte, waren in den kreativen Gruppen von Susanne Korbmacher. In den sozialen Förderprojekten ihres Vereins "Ghettokids", die am Schluss des Buches in der Dokumentation vorgestellt werden, steht vor allem ein Ziel im Vordergrund: So oft wie möglich von der Straße weg! Das geht - und das zeigt sich in den hier berichteten Geschichten sehr klar - bestens mit Anregung zur eigenen Kreativität, das funktioniert mit Hilfe von Theater, Liedern, Musik, Tanz. Thealimuta - auch ein von Susanne Korbmacher initiiertes Kooperationsprojekt ihrer Förderschule mit einem Jugendzentrum im Hasenbergl-Viertel. Dieses Projekt läuft das ganze Schuljahr und gibt den Kids die Möglichkeiten, an kreativen Arbeitsgemeinschaften teilzunehmen.

Diese Inhaltsübersicht kann bei den vielfältigen Aktivitäten für die Kids, von denen in dem Buch die Rede ist, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Aber eine Lücke muss auf jeden Fall noch geschlossen werden. In dem Kapitel Susanne beschreibt die Autorin ihre eigene Kindheit in der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Sie erlebte zusammen mit den ihren Schwestern den Terror ihres Vaters, eines Spielers und Alkoholikers, der nach außen hin den guten Vorzeige-Papa spielte und auch der Mutter war die Fassade einer braven Durchschnittsfamilie wichtiger als das Schicksal ihrer Kinder. Sie erlebten nach mehreren Umzügen quer durch Deutschland den Zusammenbruch der Familie. Susanne Korbmacher schildert, was diese Katastrophen den Seelen der Kinder an Verletzungen zufügte und wie sie dann, jedes für sich, anfingen, nach dem Verlust des Elternhauses ihr Leben selber in die Hand zu nehmen.

Fazit

Dadurch, dass die Autorin hier ihr eigenes Schicksal darlegt, sich nicht versteckt, zeigt sie schon auf, wie es gehen könnte mit den schwierigen Jugendlichen: Weg mit der Fassade, ist die Botschaft, runter mit der Tünche, rede über deine Schwierigkeiten und Schwächen, die du hier in der deutschen Gesellschaft hast und verstecke dich nicht! Die anderen werden dich verstehen, denn sie wissen, wovon du redest. Versucht gemeinsam, eure Situation zu meistern. Das kann vielleicht mit der Hilfe eurer Kreativität gelingen, der Möglichkeit, euch zum Beispiel durch Musik auszudrücken. Vielleicht schafft ihr es ja wieder, von der Straße weg zu kommen und respektiert zu werden, vorausgesetzt, ihr respektiert die anderen. Nicht umsonst, kann hinzugefügt werden, ist Respekt ein Begriff aus der Hip-hop-Kultur, der diese Jugendlichen im Münchner Norden und auch die Migranten-Kids in anderen Großstädten angehören. Ich helfe euch dabei, signalisiert Susanne Korbmacher, in den Gruppen breakdancend, rappend, theaterspielend eure Scheu zu überwinden, eure Selbstachtung wieder zu finden. Ich helfe euch, wenn ihr mögt. Und wenn sie durch die kreativen Aktivitäten wieder ein Stück dieser Selbstachtung gefunden haben, die ihren durch Elternhaus und Gesellschaft abhanden kam, gibt es Hoffnung. Nicht in jedem Fall gelingt das, wie sich in manchen Geschichten zeigt, denn das Entdecken der eigenen Kreativität reicht ja nicht immer aus, um den Schulabschluss zu schaffen oder eine Lehrstelle zu finden. Womöglich hängt man ja immer noch auf dem Bahnhof rum. Hauptsache aber ist, so ein anderer Teil der Botschaft, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Es mag ja in anderen Städten auch Projekte geben, wie sie hier in "Ghettokids" beschrieben werden. Viele private Initiativen, Einsatzwillen der Sozialarbeiter, gute Ideen und viele Jugendliche, die raus wollen aus dem Dreck, es auch schaffen oder auch nicht. Susanne Korbmacher kommt das Verdienst zu, dass sie die Situation dieser Straßenkinder, die ja meist keinen deutschen Pass haben, hier darstellt, dass sie an die Öffentlichkeit geht. Damit hilft sie nicht zuletzt, die Scheu vor dem Fremden zu überwinden, wie auch die Kritik positiv hervorhob. Nach der Ausstrahlung des gleichnamigen Films war zu hören, dass er Zuschauern die Augen geöffnet habe für die Situation vieler Straßenkinder in Deutschland. Das lässt sich natürlich auch von diesem Buch sagen. Die Leistung dieser engagierten Lehrerin ist auf jeden Fall beeindruckend. Sie setzt sich immer voll ganz für ihre Kids ein, auch wenn es - und sie spricht ja auch von Grenzen, die sie setzen muss - nicht immer leicht ist.